Was bewirkt Licht im Menschen?

Licht und Bewusstsein

Was ist eigentlich Sehen? Die erste Voraussetzung ist es natürlich, die Augen zu öffnen. Es braucht intakte, gesunde Augen, um alles „richtig“ sehen zu können. Aber reicht das?

Im Jahre 1910

gelang es den französischen Chirurgen Moreau und LePrince, einem achtjähren, durch grauen Star von Geburt an blinden Jungen erfolgreich zu operieren. Als die Verbände entfernt werden konnten, bewegte einer der beiden Operateure die Hand vor den – nun organisch voll funktionsfähigen – Augen des Kindes. „Was siehst Du?“ fragten sie ihn – „Ich weiß nicht“ war die Antwort. Und das wiederholte er so lange, bis ihn jemand die sich bewegende Hand anfassen ließ. „Das bewegt sich!“ rief er da freudig aus. Der kleine Junge konnte die Bewegung fühlen, er konnte sie sogar hören, wie er sagte – sie zu sehen musste er aber erst mühsam lernen.

Ähnliches wird auch von anderen Menschen berichtet, deren Blindheit durch eine Operation geheilt werden konnte. Für sie ist die Welt nicht sofort erfüllt von Licht, Farbe und Bildern, die sie verstehen und einordnen können. Das Sehenlernen dauert oft viele Jahre und ist ein anstrengender, teils auch deprimierender Prozess, dem nicht alle gewachsen sind. Nicht selten verzichten die Neu-Sehenden wieder auf diese so schwer zu beherrschende Fähigkeit und bewegen sich lieber im vertrauten „Dunkel“.

Die organische Intaktheit des Auges allein reicht nicht aus, um sehen zu können. Es bedarf auch des „inneren Lichtes“ des Bewusstseins, des Verständnisses, das dem Ab-Bild im Auge entgegengebracht wird. Erst durch das Zufügen von Begriffen zum Gesehenen konstituiert sich unser Welterleben. Dieser Prozess des inneren Verbindens mit den Seheindrücken wird in der frühen Kindheit angelegt und ist später nur schwer nachzuholen.

Was wir sehen, wird auch durch unsere innere Erwartung und Blicklenkung bestimmt.

Auf dieser Tatsache beruhen beispielsweise die bekannten Vexierbilder, auf denen man – ja nach Perspektive oder „innerer Begrifflichkeit“ – ganz verschiedene Dinge entdecken kann.

 

Alte Frau - junge Frau

Alte Frau – junge Frau

 

Saxofonist – Mädchengesicht

Alte Frau - junge Frau

Wie viele Gesichter verstecken sich in den Zweigen?

Das Versteckte in einem Vexierbild sei deutlich und unsichtbar. Deutlich für den der gefunden hat, wonach zu schauen er aufgefordert war, unsichtbar für den, der gar nicht weiß, dass es etwas zu Suchen gilt.

Franz Kafka, 1911
,,

Ein interessantes Phänomen

in diesem Zusammenhang ist die so genannte „Unaufmerksamkeitsblindheit“: Ist die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes gerichtet, blenden wir alles andere aus. Bekanntestes Beispiel dafür ist der „Unsichtbare Gorilla“, ein psychologisches Experiment, von dem es verschiedene Variationen gibt, die im Ergebnis aber immer auf dasselbe kommen. Grundmuster dabei ist folgendes:

Auf dem Bildschirm sind sechs Volleyballspieler zu sehen, die sich Bälle zuwerfen. Drei davon sind schwarz gekleidet, drei weiß. Der Zuschauer wird aufgefordert, die Ballwechsel der weißen Spieler zu zählen. Mitten im Spiel läuft plötzlich eine Frau im schwarzen Gorillakostüm durch die Szene.

Die Probanden werden am Ende befragt, ob sie neben den Ballwechseln auch noch etwas anderes, Ungewöhnliches bemerkt haben. Erstaunliches Ergebnis: Ungefähr die Hälfte hat den Gorilla nicht „gesehen“. Noch erstaunlicher: selbst wenn die Probanden vorher darüber informiert werden, bemerken immer noch etliche den Gorilla nicht, wenn nur die Aufgabenstellung schwer genug ist:

www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-der-unsichtbare-gorilla

wikipedia.org/wiki/Unaufmerksamkeitsblindheit

lexikon.stangl.eu/unaufmerksamkeitsblindheit

Blau ist nicht immer blau

Auch das Erleben von Farben ist ein Prozess, der weit über die reine Sinnestätigkeit hinausgeht.

Johann Wolfgang von Goethe bemerkte als erster Leser, dass in Homers großen Werken nirgendwo ein Wort für „blau“ zu finden ist: der Himmel wird als „ehern“ oder „bronzefarben“ beschrieben, das Meer als schwarz, weiß, grau oder gar „weinfarben“.

Optisch waren die Augen der Griechen nicht anders gebaut als unsere – aber ihr Farberleben stand in einem anderen seelischen Kontext: Blau und seine Spielarten waren in der Antike keine Farbe, sondern Eigenschaften der Dunkelheit. Deshalb können sowohl der Umhang der Thetis wie die Haare des Hektor als „kyanos“ (heute als „cyan“ in der Farbenlehre für ein grünblau verwendet) beschrieben werden.

Ähnliches gilt für „chloros“ (grün), mit dem unter anderem Honig, Tau, Tränen und Blut bezeichnet werden – hier ist die erlebte Konnotation vor allem „frisch“ oder „feucht“. Innere Eigenschaften überlagern im alten Griechenland das, was heute als Farbe bezeichnet wird. Einen Rest davon findet man z. B. noch in der Redewendung „rot sehen“ für wütend werden.

Das Sehen von Blau hat sich offensichtlich im Laufe der Zeit verändert. Das Erleben von Farbigkeit hängt eben auch mit der inneren Disposition des Betrachters zusammen. Interessant dabei: Es gibt im Auge sogar ganz spezifische Rezeptoren für blau („fotosensitive Ganglienzellen“), die aber erst 1991 entdeckt wurden.

Auch über das Sehen hinaus

stehen wir mit dem Licht in Verbindung – körperlich, seelisch und geistig. Neben den Augen ist auch unsere Haut ist ein großes Lichtorgan: die Aufnahme von Licht durch die Haut ist die Voraussetzung, dass im Körper das lebensnotwendige Vitamin D gebildet werden kann.

Die Chronobiologie hat nachgewiesen, dass sich die wesentlichen Rhythmen der menschlichen Leibesprozesse am Licht gebildet haben. Unser gesunder Schlaf hängt von diesen lichtgeprägten Rhythmen ab. Ein großer Teil unseren hormonellen Systems ist in die lichtabhängige Schlafregulierung eingebunden und wirkt auch auf unsere innere Stimmungslage ein („Winterdepression“ aus Lichtmangel).

Leib und Leben werden von Lichtprozessen gebildet und beeinflusst, und wir fügen allem Äußeren das Licht unseres Bewusstseins hinzu, durch das wir uns selbst und unsere Beziehung zu der uns umgebenden Welt beleuchten und gestalten. So stehen wir als Menschen auf allen Ebenen unserer Existenz in tiefer Beziehung zu dem Licht, das uns umgibt.

 

Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen, aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit.

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)
,,

Der Mensch muss lernen, den Lichtstrahl aufzufangen und zu verfolgen, der in seinem Inneren aufblitzt.

Ralph Waldo Emerson (1803-1882)
,,

Weiterlesen:

Das Licht im Tageslauf

Wechselnde Lichtstimmungen beeinflussen unser Lebensgefühl und gestalten unser Dasein

Die Entwicklung der künstlichen Beleuchtung

Eine kurze Geschichte des Lichts von Feuer und Fackel über Gaslicht und Glühlampe bis zur LED

Elektrisches Licht und seine Folgen

Die steigende Helligkeit der Städte und der Verlust der Nacht als Veränderung im Lebensgefüge von Mensch und Natur

Eine kurze Kulturgeschichte des Lichtes

Die Erhellung der Welt und die Entwicklung des Bewusstseins