
Wie erscheint die Sonne?
Das Licht im Tageslauf
Der natürliche Tageslauf hat den Menschen von Anbeginn an geprägt und gestaltet, er ist uns in unser ganzes Sein eingeschrieben (siehe Medizin und Gesundheit, Der Mensch als Lichtgestalt). Und wer einmal ganz früh aufgestanden ist und Gelegenheit hatte, den Übergang von der Nacht zum Tag in freier Natur ungestört und bewusst mitzuerleben, der weiß, was für ein überwältigendes Erlebnis es sein kann, all die feinen Übergänge zu beobachten, bis dann schließlich nach langem Warten die Sonne erscheint...1

In der Nachtdunkelheit –
wenn sie in ihrer Vollkommenheit und ohne störende Einflüsse zu erleben ist – ist keine scharfe Wahrnehmung möglich: Es gibt weder Farben noch räumliche Empfindung oder klare Abgrenzungen, alles erscheint als schwarze, unergründliche Einheit. Es ist kaum möglich, sich darin zu orientieren. Auch das ferne Licht der Sterne am Himmel schafft keine sichtbaren Unterscheidungen, nur der volle Mond kann ein wenig fremdartigen Glanz auf die Erde bringen.
Kurz vor der Morgendämmerung verändert sich das allmählich: die Welt erhellt sich zum Grau, erste Konturen erscheinen, die undurchschaubare Dunkelheit bekommt Zweidimensionalität: Umrisse sind relativ gut zu erkennen, die Entfernungen lassen sich jedoch noch nicht wirklich abschätzen. Immer heller wird die Welt, die Farben erhalten eine Leuchtkraft, die sie den ganzen Tag durch nicht mehr zeigen werden.
Und dann geht die Sonne auf: Ein Meer von Helligkeit leuchtet auf und überglänzt alle Erscheinungen der Welt. Nicht umsonst hat das Erlebnis der Morgen- und Abendstimmung viele Dichter angeregt – es kann darin ein Moment des Gewahrwerdens tiefinnerlichster Schönheit liegen.
Im Tageslicht erscheinen alle Dinge farbig und räumlich, die Welt ist „alltäglich“ geworden. Um die Mittagszeit kann die Sonneneinstrahlung dann so stark werden, dass sich alles in „weiße Helligkeit“ auflöst – die Überhelle des Mittags bildet die Polarität zum Nachtdunkel und kann auch eine ähnliche Stille in sich tragen. (Angemerkt sei an dieser Stelle, dass der so genannte „Tageslichtstandard“ sich auf eben dieses helle Mittagslicht bezieht, die wechselnden Lichtintensitäten des Tages werden darin nicht abgebildet.)
Nach der Mittagshelle flacht die Lichtkurve wieder ab; nach einer warm scheinenden Nachmittagszeit beschenkt uns der Sonnenuntergang noch einmal mit einem Feuer verglühender Farben. In der Abenddämmerung werden die Schatten wieder lang, die Welt dämmert in die konturenhafte Zweidimensionalität hinein, bevor die nächtliche Finsternis wieder alles vereinheitlicht.
1 Wunderschön beschrieben ist dieser Übergang in Hans-Christian Zehnters Essay „Lichtmess“, siehe Literatur